Allein oder einsam?

Immer unter Menschen zu sein, immer Party, bei Tag und Nacht nie allein. Das ist sehr anstrengend, ja kann auf Dauer zu stressbedingten Krankheiten führen. Dabei gibt es Kulturen, da ist die Gemeinschaft allgegenwärtig. Da wird so ein Leben als normal angesehen. Wer dort ganz für sich sein will, geht als Eremit in die Wüste oder lebt allein in der Waldhütte. Einmal nur das zu tun, was man selbst möchte, keine fremden Vorgaben zu erfüllen, seinem eigenen Zeitrhythmus zu folgen, das ist absoluter Luxus. Wobei die klassische Abkehr von der Gesellschaft – als Mönch oder Nonne – ja auch nicht wirklich frei macht. Im Gegenteil. Man ist zwar von den Verpflichtungen des „normalen“ Lebens entbunden. Dafür unterliegt man dem strengen Reglement der klösterlichen Gemeinschaft: drei Uhr aufstehen, beten, Küchendienst, beten – und so weiter…

In unserer modernen Industriegesellschaft lässt sich das Bedürfnis nach dem Alleinsein immer besser verwirklichen. Unsere Wohnflächen steigen ebenso wie die Zahl der Singlehaushalte. Waren und Essen kann man sich nach Hause liefern lassen – kommunizieren kann man per E-Mail oder Social Media. Wir haben uns große persönliche Freiräume geschaffen. Das ist gut und zugleich schlecht. Denn jetzt schlägt das Pendel in die Gegenrichtung, hin zu einer neuen Einsamkeit – und das nicht erst seit Corona. Die Pandemie mit ihren Kontaktverboten und Ausgangssperren ist hier nur ein großer Sichtbarmacher. Dabei betrifft Einsamkeit nicht nur die Alten – auch und gerade die Jungen fühlen sich oft isoliert.

2019 empfanden sich ein Viertel der 20- bis 40-Jährigen zeitweise als einsam. In der Pandemie ist dieser Wert auf über 60 Prozent nach oben geschnellt. Und Einsamkeit wirkt mindestens so schädlich wie sich gar nicht zurückziehen zu können. Auf Dauer ist soziale Isolation sogar schädlicher als Rauchen, Alkoholmissbrauch oder Übergewicht. Wie so oft geht es beim Thema Sozialkontakte darum die (für jeden individuelle) „goldene“ Mitte zu finden. Allein sein zu dürfen ist schön, allein sein zu müssen ist schrecklich.

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